Mister Bolivar

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Wir müssen gestehen, dass wir über Bolivien nicht so viel wussten. Ein bißchen Allgemeinbildung, ein bißchen aus den Nachrichten. Wir hatten uns ein paar Flecken markiert, die wir sehen wollten, und ein klein wenig darüber gelesen. Das war es dann aber schon. Von daher hat uns Bolivien mit voller Wucht getroffen, so wie kein anderes Land auf unserer Reise.

Erst 1825 erlangte Bolivien seine Unabhängigkeit, die Herr Sucre im Auftrag von Simón Bolivar militärisch durchsetzte. Schon 1836 gab es den ersten Krieg gegen Chile und Argentinien, welcher verloren wurde. 1879 folgte der zweite Krieg, der sogenannte Salpeterkrieg. Den hat Bolivien ebenfalls verloren, diesmal nur gegen Chile und verlor dabei den Zugang zum Pazifik. Das ist noch immer ein Riesenthema. 1932 gab es dann den Chacokrieg, in dem große Teile Boliviens an Paraguay verloren gingen. Muss ich erwähnen, dass dieser Krieg ebenso in einer Niederlage endete?

Was folgte, waren alles andere als rosige Zeiten. Ökonomischer Niedergang, soziale Unruhen, Proteste, militärische Coups, Interessen ausländischer Großmächte und ein bisschen Demokratie. Das Ganze bis in das 21. Jahrhundert hinein. Bis dann 2005 der Kokabauer Evo Morales zum Präsidenten gewählt wurde. Der erste Präsident mit indigener Abstammung, der sein sozialistisches Versprechen, die Erdgasindustrie zu verstaatlichen, im Mai 2006 durchsetzte. Kurz bevor in Deutschland das Sommermärchen stattfand. Nur um das mal in einen zeitlichen Kontext zu setzen. 

2009 verpasste sich Bolivien eine neue Verfassung, in der vor allem die Rechte und die Kultur der indigenen Bevölkerung hervorgehoben wurden. Ebenso wurde in der Verfassung verankert, dass der Präsident nur einmal wiedergewählt werden darf. Soweit so gut.

Da Kollege Morales mit der Einführung der Verfassung seine zweite Amtszeit antrat, war es nicht ganz verwunderlich, dass es erhebliche Proteste gab, als er 2014 wieder zur Wahl antrat und gewählt wurde, zum dritten Mal. Von wegen maximal zwei Amtszeiten.

In diesem Jahr sind wieder Wahlen, und jetzt ratet mal, wer wieder zur Wahl antritt? Kollege Morales. Wozu braucht man schon eine Verfassung? Da aber eine da ist, kann man mal eben ein Referendum abhalten, welches Kollege Morales eine vierte Amtszeit ermöglichen sollte. Leider ist das Referendum nicht so ausgegangen wie gewünscht. Es wurde abgelehnt. Doch wo Korruption ist, ist auch ein Weg. Im Dezember letzten Jahres hat der Oberste Gerichtshof in Bolivien bestimmt, dass alle öffentlichen Ämter im Land keiner limitierenden Amtszeit unterliegen. Evo kann also für den Rest seines Lebens wiedergewählt werden. Das alles hat sich der Herr Bolivar sicherlich anders vorgestellt. Ob Kollege Evo wiedergewählt wird, sei dahingestellt, da die Proteste immer lauter werden und, um es einfach auszudrücken, der Großteil der Bevölkerung hat wohl die Schnauze voll von Evo und seinen Machenschaften.

Ist es daher verwunderlich das Bolivien ein hartes Pflaster ist? Auch wenn ich hier mal eben die Geschichte eines Landes sehr vereinfacht dargestellt habe, hatten wir den Eindruck, dass Land und Leute, zumindest ein sehr großer Teil, noch immer nicht an den Errungenschaften, die auch in Bolivien vorhanden sind, partizipieren. Weite Teile der Landbevölkerung lebt noch wie vor hundert Jahren. Infrastruktur ist zufällig verteilt.

Nachdem wir die Salar de Uyuni hinter uns gelassen hatten, ging es Richtung Sucre. Auf dem Weg liegend wollten wir uns unbedingt einen weiteren Eisenbahnfriedhof ansehen, auf dem der letzte Zug ruhte, den Butch Cassidy and the Sundance Kid überfallen haben sollen. Der Navigator probierte herauszubekommen, welches der Wracks denn der sagenumworbene „Zug“ sein sollte, so richtig sicher waren wir uns am Ende jedoch nicht. Wir sind mal davon ausgegangen das wir den richtigen abgelichtet haben.

Weiter ging es nach Sucre. Die Landschaft bis nach Potosí empfanden wir als schroff und unnahbar. Wir waren immer noch von der Höhe gerädert und eierten weiter auf 4.000 Meter Höhe durch Bolivien. Eigentlich wollten wir nur noch irgendwo ankommen und entspannen. Erst einmal mussten wir aber durch Potosí. Potosí war einst die reichste Stadt Südamerikas. Grund dafür ist die naheliegende Silbermine, die das größe Silbervorkommen auf dem ganzen Planeten darstellt. Von daher war Potosi schon im 16. Jahrhundert ziemlich angesagt und hatte über 200.000 Einwohner. Wie das so mit den meisten Minenstädten ist, sind sie nicht gerade sehr einladend. Wir empfanden es als ein staubiges, extrem dreckiges Loch. Da wir keine Lust hatten, Potosí näher kennenzulernen, fuhren wir nur durch und waren mehr als froh, als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten.

Hinter Potosí wurde die Landschaft plötzlich lieblicher, ab und zu zeigte sich an diesem recht verregneten Tag die Sonne und unsere Laune stieg unmittelbar an. Wir mussten feststellen, dass Bolivien wesentlich dichter besiedelt ist, als alles was wir bisher auf unserem Weg gesehen hatten. Ein Dorf folgte auf das nächste. Selbst auf der relativ abgelegenen „Straße“, also dem Schlammloch ins Nirgendwo, auf der wir unsere Mittagspause machten, haben wir etliche Unterhaltungen geführt mit all den Leuten, die vorbeigefahren oder gelaufen sind. An diesem Punkt ist uns noch etwas anderes aufgefallen: Keiner lächelt. Keiner. Dazu später noch mehr.

Nach 400km sind wir dann endlich in Sucre angekommen und hatten dazu noch das Glück, den allseitsbekannten Campspot für Overlander, der unmittelbar in der Stadt liegt, ganz für uns allein zu haben. Nach einer ziemlichen langen Zeit in der Natur ohne städtisches Leben, haben wir uns voller Begeisterung in des Treiben dieser kleinen Stadt gestürzt. Sucre ist supersüß, hübsch, hat viele alte kolonialistische Gebäude, es gibt jede Menge Cafés, Restaurants, Märkte, eben das, was das Leben in einer Stadt ausmacht. Wir haben es genossen, und mit Mohrrüben bin ich auch beschmissen worden.

Wir haben uns dann in Sucre genau den Tag ausgesucht, um ins Museum zu gehen, an dem das Museum wegen einer Parade geschlossen war. Bei der Parade ging es natürlich um die Verfassung, um den verlorenen Salpeterkrieg und dass man sich das eines Tages alles zurüchholen würde. Logisch.

Nach ein paar Tagen Entspannung in Sucre, leckerem Essen und ein wenig Kultur haben wir uns dann weiter auf den Weg nach Norden begeben. Nicht ohne noch auf eben diesem Campingplatz am letzen Abend ein Schweizer Pärchen wieder zu treffen, die wir schon in Argentinien und in Chile getroffen haben. Man fährt sich eben immer mal wieder über den Weg.

Kurz hinter Sucre, auf dem Weg nach Cochabamba, ist Cal Orcko. Eine paläontologische Stätte, auf der hunderte von Dinausaurierspuren von mindestens 294 verschiedenen Dinosaurierarten zu sehen sind. Nachdem wir am Eingang erst einmal vorbei gefahren sind, haben wir dann die Zufahrt in einem Gemisch von LKW-Rastplatz und Einfahrt zu einem Steinbruch gefunden. Wir waren – wie üblich – mal wieder zufrüh dran. Es war nämlich Wochenende und da macht der Park erst um 10 Uhr auf. Wir mussten uns also eine halbe Stunde gedulden. Wir haben natürlich die Wache gefragt, ob es denn nach der Öffnung auch eine Führung zu den Spuren gäbe, was direkt bejaht wurde. Wir warteten also bis zehn Uhr, kauften unsere Tickets, traten ein und fragten, wo denn die Führung startet. Die Antwort war relativ ernüchternd. Die Führung startet um 12 Uhr, aber bis dahin können wir uns den Park ansehen. Jetzt muss man wissen, dass der Park für Kinder gebaut wurde, in dem aus Plastik nachgebaute Dinos stehen. Wir sind also kurz in uns gegangen und haben uns gefragt, ob wir hier jetzt zwei weitere Stunden warten wollen, um ein paar Abdrücke in Steinen zu sehen. Da Warten und Führungen in einer Gruppe auch nicht unbedingt unsere Sache sind, haben wir diesen sinnlosen Zwischenstop zu den Akten gelegt und sind weitergefahren. Museen in Bolivien und wir passen anscheinend nicht so richtig zueinander.

Der weitere Weg von Sucre über Cochabamba nach La Paz verlief relativ unspektakulär. Immer wieder haben wir landschaftlich wunderschöne Passagen durchquert, die irgendwie der einen oder anderen Gegend in Europa entsprachen. Sind bergauf und bergab, zwischen Kolonnen von LKWs gefahren, die von oder zu den unzähligen Minen unterwegs waren. Sowie durch jede Menge Baustellen mitten in den Bergen. Also ein guter Zeitpunkt über den Verkehr in Bolivien zu sprechen.

Beziehungsweise über die anderen Verkehrsteilnehmer in Bolivien. Wer der Meinung ist, dass deutsche Autofahrer rücksichtslos seien und der Verkehr im Süden Italiens unerträglich sei, der sollte einmal in Bolivien in ein Auto steigen und ein bißchen durch die Gegend fahren. Danach ist – egal wo in Europa – Autofahren ein Freudenritt. In Bolivien nimmt keiner, aber auch wirklich keiner Rücksicht auf den anderen. Jeder ist sich selbst der nächste und fährt einfach. Egal, was um einen herum gerade passiert. Bremsen sollen die anderen. Der öffentliche Nahverkehr besteht aus Sammeltaxis; hiervon gibt es gefühlt Millionen, die an fast jeder Ecke in gleicher Zahl anhalten, die Straße blockieren und aus der Blockade ausbrechen. Hinzu mischt sich alles vom Radfahrer, über das Tuktuk bis hin zum LKW, der abhängig von der Anzahl Jahrzehnte, die er auf dem Buckel hat, sich in seinem eigenen Tempo vorwärts bewegt. Das ganze findet auf allem zwischen bestem Asphalt und Matsch statt. Willkürlich verteilt. So kann es auch mal vorkommen, dass die Matschpiste die Fortsetzung der Hauptstraße ist, und der verwöhnte Europäer einen Moment benötigt, um das zu verstehen.

Dann war da La Paz. Nicht nur, dass La Paz sowieso ziemlich hoch liegt, die Höhenunterschiede in La Paz haben es in sich, die wohlhabenen Stadtteile liegen auf 3.200 Meter Höhe, das arme El Alto auf 4.000 Meter. Und so geht es in der Stadt hoch und runter. Das ganze mit Humphrey, der drei Tonnen wiegt, und auf der Höhe im unteren Drehzahlbereich sich keinen Millimeter bewegt, sondern erst in Schwung kommt, wenn der Turbo anspringt. Die einen umringenden Verkehrsteilnehmer kleben an der Stoßstange, und wenn man nicht unmittelbar vom Fleck kommt, dann wird gehupt. Das Ganze fühlte sich an, wie in der Fahrschule: „Anfahren am Berg“. In La Paz hat sich auch unser Navi von Garmin unerklärlich entschlossen, den Geist aufzugeben. Glücklicherweise konnten wir einen Onlinehändler auftun, der uns in seiner Wohnung ein Vorgängermodell verkauft hat. Dieses hat übrigens einen Tag später, mit dem gleichen aufgespielten Datensatz, den gleichen Entschluss gefasst. Geist aufgegeben.

Humphrey hat nach all den Anstrengungen in Südamerika noch neue Bremsbelege verdient und bekommen, bevor wir uns dann am nächsten Tag in Richtung Peru aufgemacht haben. Auf dem Weg dorthin wollten wir uns noch Tiwanaku ansehen. Eine der wichtigsten historischen Stätten in Bolivien. Der Weg führte uns durch El Alto, dem Armenviertel von La Paz, natürlich im kompletten Verkehrschaos. Als wir dann endlich La Paz hinter uns gelassen hatten und endlich mal wieder Gas geben konnten, sind wir beim Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit erwischt worden. Nach einer zehnminütigen Verhandlung mit den Polizisten in bestem Spanisch konnten wir ihn überzeugen, dass wir sehr gerne zehn Dollar zahlen, damit wir ohne weitere Bürokratie weiterfahren konnten.

Tiwanaku. Wenn man von einer der wichtigsten archälogischen Stätten des Landes ausgeht, von einer der wichtigsten Hochkulturen, die in dem Land geherrscht haben, dann würde man doch erwarten… aber genau hier liegt schon das Missverständnis. Die Stätte ist seit dem Jahr 2000 UNESCO Weltkulturerbe, aber selbst die UNESCO wollte der Stätte schon den Status aberkennen, weil es keinerlei Absperrungen gab, die Leute über alles hinweggetrampelt sind, und kein Geld investiert wurde, um die Stätte zu erhalten. Es ist wirklich schade. Man kann erkennen, wie mächtig und großartig diese Stadt einst gewesen sein muss, doch hat man den Eindruck, dass keine Liebe, kein Respekt, keine Wertschätzung vorhanden ist.

Zum krönenden Abschluss gab es noch das Museum vor Ort, samt liebevoll hergerichtetem Innenhof. Wir haben uns trotzdem nicht die gute Laune verderben lassen, denn wir waren noch immer erleichtert, dass wir die Polizei bestechen konnten und nicht zurück auf das Präsidium nach El Alto mussten.

Danach ging es noch über weitere Matschpisten, wo laut Karte eigentlich Straßen sein sollten, vorbei an Bauarbeitern, die uns um ein bißchen Alkohol gebeten haben, bis wir dann endlich, nach vielen weiteren Kilometern am Titikakasee angekommen waren, wo wir standesgemäß mit der Barke nach Peru übergesetzt haben.

Wir sind mit Bolivien nicht so richtig warm geworden. Einer der Hauptgründe ist sicherlich, dass keiner, aber auch wirklich keiner, den wir angelächelt haben, zurückgelächelt hat. Wir haben uns wirklich Mühe gegeben, aufgrund der nicht erwiderten Liebe sogar mehr als üblich, weil wir es einfach nicht fassen konnten. Selbst den Kindern, die eigentlich überall auf der Welt ein Lächeln für einen übrig haben, konnten wir in Bolivien kein Lächeln entlocken. Wenn keiner zurücklächelt, dann fühlt man sich einfach nicht willkommen. Auf der anderen Seite ist Bolivien am wenigsten angepasst, rauh und sehr usprünglich. Ein Platz für ein Abenteuer und das ist auch das was Bolivien für uns war. Ein Abenteuer.

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